Die katalanische Literatur    
     
Daß die katalanische Literatur eine der bedeutenden Literaturen Europas ist, die mit ihren besten Autoren und Werken qualitativ auf dem Niveau der anderen romanischen Literaturen (etwa der französischen, portugiesischen, spanischen, italienischen und rumänischen) steht, dringt erst wieder mit dem Ende der Franco-Ära verstärkt ins europäische Bewußtsein. Auch was die Quantität und die regelmäßige Streuung großer Werke über das letzte Jahrtausend hin betrifft, ist die katalanische Literatur mit der Mehrzahl der anderen romanischen Literaturen (vielleicht mit Ausnahme der französischen und italienischen) vergleichbar, die ihre ausgesprochenen Höhen und Tiefen sowie ganze Epochen geringer literarischer Produktion gehabt haben - was im übrigen auf die meisten Literaturen der Welt zutrifft.

Die katalanische Literatur besitzt bereits im 13. Jahrhundert einen in der europäischen Literaturgeschichte einmaligen Höhepunkt in der Gestalt von Ramon Llull (Ciutat de Mallorca 1232-1316). Nach den um 1200 entstandenen Predigttexten Homilies d'Organyà - dem ältesten erhaltenen literarischen Zeugnis katalanischer Sprache - hat die Literatur in Katalonien das Glück, in Llull ihren Begründer und Meister zugleich zu finden. Llulls Entschluß, als sprachliches Medium nicht mehr das Lateinische, sondern die natürliche Sprache des Volkes zu verwenden, hob das Katalanische (30 Jahre früher, als es Dante für das Italienische gelang) endgültig in den Rang einer Literatur- und Wissenschaftssprache. Bereits durch den katalanischen Königshof und die Expansion am westlichen Mittelmeerrand nach Süden und auf die Balearen hatte das Katalanische als Schriftsprache großes Prestige gewonnen - wahrscheinlich zusätzlich beeinflußt durch das sehr nah verwandte Okzitanische, der Sprache provenzalischer (und katalanischer) Dichter seit dem 12. Jahrhundert.

Was Ramon Llull betrifft, so hat er über 260 Werke hinterlassen, darunter bedeutende katalanische Romane wie Bla(n)querna oder Fèlix o Llibre de meravelles. Die in ihnen enthaltenen literarischen Kostbarkeiten, insbesondere das Llibre d'amic e amat (Buch vom Liebenden und Geliebten) und das Llibre de les bèsties (Buch der Tiere) - in denen sich Llulls Kenntnis der lateinischen und arabischen Tradition, seine Vertrautheit mit der Liebeslyrik der Trobadors und sein großes schöpferisches Genie zeigen - gehören zu den Glanzpunkten mystischer Erzählkunst in Katalonien. Zu den bedeutenden philosophisch-theologischen Werken Llulls zählt die frühe Art d'atrobar veritat (wörtlich: Die Kunst, Wahrheit zu finden) - ein Schlüssel zur genauen Ordnung allen Wissens, eine Wissenschaft der Wissenschaft sozusagen. In seinen späteren Werken entwickelt der Mallorquiner, mit dem Ziel alle Menschen noch so verschiedenen Glaubens zu einem gemeinsamen Denkgebäude und einem friedvollen Zusammenleben zu führen, eine neue Methode der Kombinatorik, die bis heute die Logiker fasziniert und Llull als Vorläufer für Computersprachen erscheinen läßt. Llulls fundamentales philosophisches Werk ist seine immer wieder neu geschriebene Ars Magna (Die Große Kunst), die Hunderte von Gelehrten, darunter so hervorragende Denker wie Giordano Bruno, Nikolaus von Kues und Leibnitz, beeinflußte.

Das 13. und 14. Jahrhundert ist auch die Entstehungszeit der herausragenden Katalanischen Chroniken - eindrucksvolle Zeugnisse stilistisch bereits weit entwickelter Geschichtsschreibung. Zunächst (im dritten Viertel des 13. Jh.s) schrieb König Jaume l. (Montpelhièr 1209 - València 1276) seine Chronik; wenig später (bis 1288) folgte der Chronist Bernat Desclot mit seinem Werk, Anfang des 14. Jahrhunderts verfaßte der Hofmann, Diplomat und militärische Führer Ramon Muntaner (Peralada 1265 - Eivissa 1336) seine großartige Chronik, und ab 1363 entstand der Bericht des katalanischen Königs Pere III. (Balaguer 1319 - Barcelona 1387). Alle 4 Texte, aus denen bis auf den heutigen Tag die Stimme eines unabhängigen und blühenden Kataloniens spricht - zu Beginn der historischen Epoche Kataloniens als großer Mittelmeermacht - berichten nicht nur große Ereignisse und "Heldentaten", sondern gerade auch viele Details über Lebens- und Gesellschaftsformen der Menschen der damaligen Zeit. Auf dem Gebiet der Prosa des 13. und 14. Jahrhunderts ist ferner der gelehrte Arzt und phantastische Visionär Arnau de Vilanova (1238/40 - 1311) zu nennen, der zu (fast) allen Fragen seiner Zeit Stellung nahm.

Zu den herausragenden literarischen Persönlichkeiten des 14. und 15. Jahrhunderts gehört in erster Linie Francesc Eiximenis (Girona 1327 - Perpinyà 1409), der scharfsinnig über die sich anbahnenden sozialen Veränderungen der mittelalterlichen Gesellschaft reflektiert (vgl. insbesondere sein Buch Llibre de les dones, Buch über die Frauen). Großen Erfolg, vor allem in den breiten Volksschichten, hatte Vicent Ferrer (València 1350 - Gwened, "Vannes", Bretagne, 1419), der seine auf katalanisch verfaßten Predigten im ganzen romanischsprachigen Europa verkündete. Anselm Turmeda (Ciutat de Mallorca 1352/55 - Tunis, nach 1423), der sich seit seinem Übertritt zum Islam Abd Alláh al-Mayurqui nannte (eine Namensform, die auf seine Herkunft aus Mayurca, d. h. Mallorca, hinweist), schrieb außer auf arabisch des weiteren Werke auf katalanisch, darunter das berühmte Llibre de bons amonestaments (Buch der guten Ratschläge), das in den Schulen Kataloniens bis ins 19. Jahrhundert als Schulbuch benutzt wurde, sowie die Disputa de l'ase (Das Streitgespräch des Esels).
Der erste Autor aller romanischen Literaturen, der einen Dialog platonischer Prägung schrieb, war Bernat Metge (Barcelona 1340/46 - 1413) mit Lo Somni (1399; Der Traum). Metge, der einen neuen Stil in der katalanischen Prosa durchsetzte, gilt außerdem als erster bedeutender Humanist der Iberischen Halbinsel. Mit Überraschung entdeckt man in seinem Werk feministisches Gedankengut avant la lettre.
Ein überragender Höhepunkt der katalanischen Literatur des 15. Jahrhunderts und ein Gipfelpunkt der Lyrik in der (Welt-)Literaturgeschichte ist das dichterische Werk von Ausiàs March (wahrscheinlich Gandia 1397 - València 1459). Stark beeinflußt von der Trobadordichtung des 12. und 13. sowie der italienischen des 14. Jahrhunderts, prägt March seinerseits maßgeblich die spanische und portugiesische Dichtung des 16. Jahrhunderts.
Auch auf dem Gebiet der Prosa erlebt die katalanische Literatur des 15. Jahrhunderts, ebenfalls ausgehend von València (und Gandia südlich València), einen markanten Höhepunkt: 1490 erscheint in València der katalanische Ritterroman Tirant lo Blanc (gedruckt von Nikolaus Spindeler, einem aus Zwickau in die Katalanischen Länder eingewanderten Deutschen), den Cervantes später in seinem Quijote als "bestes Buch der Welt" herausstellen läßt. In der Tat gehört dieser sich im ganzen Mittelmeerraum bewegende Roman, der auf Werken Llulls und besonders auf Muntaners schon genannter Chronik der katalanischen Expeditionen nach Athen und Konstantinopel fußt, zum "Besten", was an katalanischer Prosa nach Llull und bis zum 19. Jahrhundert erschienen ist, und es ist sicherlich nicht übertrieben, Tirant lo Blanc als einen der schönsten Ritterromane aller mittelalterlichen Literaturen zu bezeichnen. Außergewöhnlich für die Literatur jener Zeit - und hierin liegt die unverbrauchte Frische und Modernität des Tirant - ist die freizügige Schilderung erotischer Szenen, die sich auch nicht scheut, intimste Körperteile und Aktivitäten direkt beim Namen zu nennen. Autor des Tirant ist Joanot Martorell (Gandia 1413/15 - 1468), ein Schwager von Ausiàs March, der 1460 mit der Niederschrift des Romans begann. Nach seinem Tode führte vermutlich Martí Joan de Galba das Werk zu Ende, starb aber selbst fünf Monate vor der Publikation. Zur 500-Jahr-Feier der Erstausgabe hat der Fischer Verlag den Tirant in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Ein weiterer interessanter katalanischer Ritterroman, bisher auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert, ist Curial e Güelfa.
Auf dem Gebiet des katalanischen Theaters jener Zeit (wo sich sehr viel mehr Texte erhalten haben als z. B. in der spanischen Literatur) ist speziell das Misteri d'EIx (Das Mysterienspiel von Marias Auferstehung) hervorzuheben, das noch heute jeden August im südlichsten katalanischen Sprachgebiet, in Elx, aufgeführt wird: das einzige europäische Theaterspiel, das sich seit dem Mittelalter in ununterbrochener Folge erhalten hat. Ein weiterer katalanischer mittelalterlicher (Gesangs-)Text, der bis heute jährlich aufgeführt wird (besonders zu Weihnachten auf Mallorca), ist der Cant de la Sibil.la, eine apokalyptische Warnung an die Menschheit. Das 16. bis 18. Jahrhundert stellt in der katalanischen Literatur, bedingt durch die ungünstigen politischen Zustände, eine Epoche geringer Produktion dar. Gleichwohl haben eine Reihe katalanischer Schriftsteller auch in diesen Jahrhunderten bemerkenswerte Werke geschaffen. Zu nennen ist zunächst der 1515 in Barcelona erschienene allegorische Roman Espill de la vida religiosa (Spiegel des religösen Lebens; möglicherweise von Miquel Comalada geschrieben), der als europäischer Bestseller in mehr als 10 Sprachen übersetzt und in 50 Ausgaben verbreitet wurde. Beachtenswert ist ferner der Historiker und Schriftsteller Cristòfor Despuig (Tortosa 1510 - 1580), der in seinem Hauptwerk Los col.loquis de la insigne ciutat de Tortosa (1557; Die Gespräche in der Stadt T.) ein hochinteressantes Bild vom Katalonien seiner Zeit entwirft. Ein umfangreiches dichterisches Werk hat Joan Pujol (wahrscheinlich aus Mataró, vor 1550 - nach 1603) hinterlassen; darunter das mehr als 1500 Verse umfassende epische Gedicht La singular i admirable victòria (1573), das von der Seeschlacht und dem Sieg von Lepanto im Jahre 1571 handelt.

   

 

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